München, 13. Mai 2000

AfA (Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD) - Tagesseminar über die Politik in Italien

1992-1993: Ende der italienischen "ersten Republik"

Claudio Cumani, Vorsitzender DS München

 

Von 1948 bis 1992 hatte Italien 10 Wahlen und 46 Regierungen, dennoch war dieses ein politisch sehr stabiles Land: die politische Führungsschicht hat sich immer auf die christdemokratische Partei und ihre Verbündeten gestützt.
Der kalte Krieg, die Interessen der U.S.A. für Italien - ein Land, das eine strategische Stellung hat - und das Vorhandensein einer großen kommunistischen Partei haben den Austausch der Regierungsparteien verhindert und die Eigenentwicklung einer politischen Klasse erlaubt, die zum ewigen Regieren bestimmt zu sein schien.
Giulio Andreotti ist ein Beispiel dieser Unbeweglichkeit: Mitglied von 1946 bis 1948 der Verfassungsgebenden Versammlung, wird er Anfang 1992 noch einmal Ministerpräsident !

Aber in den Jahren 1992-1993 bricht das italienische politische System plötzlich und unerwartet zusammen. Obwohl die Verfassung der Italienischen Republik nicht verändert worden ist, fängt die italienische Politik an, sich so gravierend zu verändern, daß diese ersten 45 Jahre der Republik oft als "die erste Republik" genannt werden.

Was ist in diesen zwei Jahren passiert ?
Und warum ?

 

Die Gründe der Krise.

Die Gründe der Krise sind vielfältig.

  1. Auf internationaler Ebene sind zwei wichtige Punkte zu unterscheiden:
     
    1. Der Zusammenbruch der kommunistischen Regierungen hatte große Konsequenzen, nicht nur für die italienischen Kommunisten, sondern auch für die italienischen Antikommunisten. Die Wähler die die Regierungsparteien, besonders die Christdemokraten, fühlten sich zum ersten mal frei, andere Parteien zu wählen.
       
    2. Das europäische Engagement von Italien und die Evolution der Europäischen Union, mit dem Ziel einer großen Vereinigung sind wie ein starkes Band für das nationale Verhalten, ganz besonders für die Wirtschaftspolitik. Die Maastrichtbedingungen (10.12.1998) scheinen wie eine strenge Beurteilung der vergangenen Wirtschaftspolitik Italiens und gleichzeitig eine Ansammlung von Weisungen für ihre Zukunft.
       

  2. Auf innerer Ebene sind mehrere Punkte zu unterscheiden:
     
    1. Die überflutende Korruption, die Arroganz der Politiker, die Unfähigkeit der politischen Führungsschicht, Planungen und Reformen zu realisieren, die alten Strukturdefekte der öffentlichen Verwaltung veranlassen die Leute zu einer "Ablehnung von Rom", ein antistaatliches Gefühl, das nicht neu in der italienischen Geschichte ist.
       
    2. Daneben gibt es die Aktion der Minderheiten im Staatsapparat (besonders unter den Richtern), die bewußt für den Staat sind.
       
    3. In der Gemeinschaft drückt sich die Unzufriedenheit des Mittelstands auf widersprüchlichen Arten aus:
      • viele Unternehmer und Selbständige (besonders in Norditalien) suchen lokalistische oder neo-wirtschaftsliberale politische Angebote,
      • andere Leute, die von der katholischen oder linken Kultur kommen, sich im gemeinschaftlichen Ehrenamt einsetzen, glauben an die Notwendigkeit eines reformierten Staats und suchen nationale statt lokalistische Lösungen.
         
    4. Die "organisierte Kriminalität" (Mafia in Sizilien, Camorra in Campanien, `Ndrangheta in Kalabrien, Sacra Corona Unita in Apulien) hat in den 80er Jahren ihre Macht verstärkt. Besonders die aggressive Strategie der neuen corleonesischen Führung der Mafia, die Aktion der palermitanischen Richter koordiniert von Antonio Caponnetto, und der neue "spirito antimafia" (Gefühl gegen die Mafia) in der palermitanischen Gesellschaft, erzeugen einen anderen Konflikt, der die alte Ordnung destabilisiert.

 

Die Etappen der Krise.

1. Tangentopoli (Schmiergeldsstadt).

Am 17. Februar 1992 wird der Sozialist Mario Chiesa in Mailand verhaftet. Seine Geständnisse rufen den Anfang der Ermittlung "Mani Pulite" (Saubere Hände) hervor. Diese Ermittlung erreicht die wichtigsten Niveaus der Regierungsparteien und der Unternehmer, nicht nur in Mailand, sondern auch in ganz Italien:
- am 12. Mai wird Severino Citaristi (der Schatzmeister der christdemokratischen Partei) untersucht,
- am 16. Juli ist Salvatore Ligresti (der wichtigste Bauunternehmer in Mailand) dran,
- am 15. Dezember wird Bettino Craxi (Vorsitzender der sozialistischen Partei) untersucht,
- am 28. März 1993 ist Giulio Andreotti dran.
Im Oktober 1993 ermitteln die Richter gegen mehr als 1000 Leute, es sind mehr als 500 Verhaftete und gegen mehr als 200 Leute strengen sie einen Prozeß an. Unter den verdächtigen Personen gibt es ca. 200 Parlamentarier und viele Leute in der Unternehmensführung (FIAT, Olivetti, Ferruzzi, ...)

2. Die "elezioni-terremoto" (Erdbeben-Wahlen) des 5.-6. April 1992.

In den Wahlen des Aprils erreicht die christdemokratische Partei ihr niedrigstes Ergebnis in der Geschichte der Republik: 29.7% (früher hatte sie 34.3%). Obwohl sie in Süditalien ihre Stimmen behält, gibt es in Norditalien eine Katastrophe, besonders in den traditionell "weißen" (christdemokratischen) Gebieten: - 18% in Vicenza, - 12% in Verona und Padua, - 13% in Belluno.
Die sozialistische Partei verliert von 14.3% auf 13.6%.
Die Siegerin ist die Lega Nord, die von 0.5 auf 8.7% der Stimmen kommt. In der Lombardei hat die Lega Nord 25.1%, in Piemont 19.4%, in Veneto 18.9%, in Ligurien 15.5%, in der "roten" Emilia 10.6%.

3. Die Mafia mordet.

Am 23. Mai bringen 500 Kg. Sprengstoff unter der Autobahn in Capaci (in der Nähe des palermitanischen Flughafens) den Richter Giovanni Falcone, seine Frau (die Richterin Francesca Mordillo) und drei der Carabinieri des Geleits um.
Am 19. Juli ermordet eine Explosion in via Amelio in Palermo den Richter Paolo Borsellino und die fünf Polizisten des Geleits.

4. Ein neuer Präsident der Republik.

Am 25. Mai reagiert das Parlament auf den Mord von Falcone mit der Wahl von Oscar Luigi Scalfaro als neuen Präsidenten der Republik. Scalfaro ist ein alter Politiker, der gegen Korruption ist und die Unabhängigkeit der Richter während seines Auftrags entschlossen vertreten wird.

5. Giuliano Amato Ministerpräsident.

Am 28. Juni wird der Sozialist Giuliano Amato neuer Ministerpräsident. Er muß einer schweren Wirtschaftssituation entgegentreten. Italien erfüllt die Maastricht-Kriterien für eine gemeinsame Währungsunion nicht: die Inflationsrate beträgt 6.9%, das Defizit beträgt 9.9% des Bruttoinlandsproduktes (es darf 3% nicht übersteigen), die Schulden der öffentlichen Haushalte betragen 103% des Bruttoinlandsproduktes (sie dürfen 60% nicht übersteigen), die Zinsen für langfristige Staatsanleihen betragen 11.9%.

Die Regierung Amato beginnt die Wirtschaftssanierung Italiens.
Am 5. Juli erlaßt er seine erste Haushaltskorrektur: gleichwertig 30.000 Millionen DM an Ersparnissen und Spesenkürzungen.
Am 31. Juli gelingt es ihm, einen Pakt zwischen Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften zu schließen. Dieser Pakt leitet eine neue Phase in den Sozial- und Politikverbindungen ein.
Der 16. September ist der "Schwarze Mittwoch" der Lira: die italienische Lira und das englische Pfund, die in den letzten Wochen auf Grund von finanzieller Spekulation zu stark entwertet worden sind, treten aus dem Europäischen Währungssystem (EWS) aus.
Im Oktober erläßt die Regierung die größte Haushaltskorrektur der letzten Jahre: gleichwertig 93.200 Millionen DM an Ersparnissen, Spesenkürzungen und neue Steuern.
Die Regierung beginnt mit der Privatisierung der öffentlichen Betriebe, die in Aktiengesellschaften umgewandelt werden.

Am 22. Januar 1993 wird eine wichtige Reform des öffentlichen Dienstes eingeführt: von jetzt an haben die Angehörigen des öffentlichen Dienstes dieselben Regeln wie die Angehörigen des privaten Dienstes und werden auch mit Konzepten wie Produktivität, Ziele und Kündigungsmöglichkeit zu tun haben.

Eine andere wichtige Reform des Staats ist die Veränderung der Art, die Bürgermeister zu wählen (25.3.93): die Direktwahl wird einen starken Kontakt zwischen Bürger und Bürgermeister und die Geburt einer neuen lokalen Führungsschicht erlauben.

Der Kampf gegen die Mafia kommt gut voran: am Januar 1993 wird der Chef der Mafia Totó Riina gefangen genommen. In derselben Zeit wird Gian Carlo Caselli der Chef der palermitanischen Richter: seine Arbeit wird sehr wichtig und mutig sein.

6. Das Referendum und die neue Regierung von Ciampi.

Am 17.-18. April 1993 sagen die Italiener durch ein Referendum, daß sie ein mehrheitliches Wahlsystem wollen.

Amato, der gegen das Referendum war, tritt zurück. Carlo Azeglio Ciampi, der ein Partisan war und der Präsident der Zentralbank (Banca d'Italia) ist, wird der neue Ministerpräsident.
Während seiner Regierung wird ein anderer Pakt zwischen Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften unterschrieben: der "Patto sul costo del lavoro" (Pakt über die Arbeitskosten, 3.7.93) organisiert neue Verhältnisse zwischen Unternehmern und Gewerkschaften, die so genannte "concertazione" (Übereinstimmung) und legt eine neue "politica dei redditi" (Gehaltspolitik) fest.
Eine wichtige Reform der öffentlichen Verwaltung (Riforma Cassese) bringt Transparenz und Vereinfachung der Staatsbürokratie.
1993 kommt auch ein Wahlsystemreform, in Richtung eines mehrheitlichen Systems.

 

Abschluß.

Anfang 1994 geht die Regierung von Ciampi zu Ende. Ihm wird Berlusconi und der Polo delle Libertá (Freiheitspol, die mitte-rechts Koalition) und dann Prodi mit dem Ulivo (Olivenbaum, die mitte-links Koalition) folgen.
Obwohl es klar ist, was die "erste Republik" war, ist noch nicht klar, was der derzeitige Übergang bringen wird: eine "zweite Republik" oder eine Rückkehr zu der Vergangenheit ? Alles ist möglich.
Im Moment versucht Berlusconi, seine "Forza Italia" als eine neue christdemokratische Partei zu gründen. Er möchte die Selbständigen, die kleinen Unternehmer, die Konservativen Katholiken mit dem Zement eines "Antikommunismus ohne Kommunisten" verbinden. Aber es ist nicht klar, wie er den Neo-Wirtschaftsliberalismus und den Individualismus der Forza Italia mit dem Zentralismus der Alleanza Nazionale (postfaschistische Partei) mit dem Unabhängigkeitsstreben und Regionalismus der Lega Nord in einer harmonischen Koalition wird zussamenhalten können.
Aber auch im Ulivo gibt es viele Probleme: die verschiedenen Parteien der Koalition haben unterschiedliche Ideen und Projekte für die Reform des Wohlfahrtsstaats, die Staatsform (Föderalismus oder anderes ?), die Prioritäten ...
Dieses Jahr, das letzte Jahr dieser Legislaturperiode, könnte wichtig sein, um Antworten auf diese Fragen zu geben.

 

Chronologie

1992
2. Januar. Das Parlament wird vorzeitig aufgelöst.
7. Januar. Der Vertrag über die Errichtung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion wird in Maastricht unterschrieben.
17. Januar. Haftbefehl für den milanesischen Sozialisten Mario Chiesa, von dem Richter Antonio Di Pietro unterschrieben (Beginn der Ermittlung "Mani Pulite", Saubere Hände).
5.-6. April. Wahlen. DC 29.7%, PDS 16.1%, PSI 13.6%, Lega Nord 8.6%, Rifondazione Comunista 5.6%.
23. Mai. Die Mafia ermordet in Capaci (Palermo) den Richter Giovanni Falcone, seine Frau und drei der Carabinieri des Geleits.
25. Mai. Oscar Luigi Scalfaro (DC) wird zum Präsident der Republik gewählt.
31. Mai. C. A. Ciampi, der Präsident der Zentralbank (Banca d'Italia), schlägt Alarm wegen der Zerrüttung der italienischen Staatsbilanz.
28. Juni. Regierung von G. Amato (DC, PSI, PSDI, PLI).
10. Juli. Haushaltskorrektur der italienischen Staatsbilanz.
19. Juli. Die Mafia ermordet in Palermo den Richter Paolo Borsellino und die fünf Polizisten des Geleits.
31. Juli. Erste Einigung zwischen Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften (Abschaffung der "scala mobile" und Beginn einer neuen Gehaltspolitik).
13-17 September. Währungskrise. Die Lira tritt aus dem Europäischen Währungssystem aus.
17. September. Zweite, größere Haushaltskorrektur der italienischen Staatsbilanz.
1993
15. Januar. der Chef der Mafia Totó Riina wird gefangen genommen.
Februar-April. Viele Politiker und Unternehmer werden untersucht ("Tangentopoli").
25. März. Reform der Wahl der Bürgermeister (Direktwahl).
17.-18. April. Referendum für ein mehrheitliches Wahlsystem.
28. April. Regierung von C.A. Ciampi ("Regierung der Techniker").
7. Mai. A. Fazio ist der neue Präsident der Zentralbank (Banca d'Italia).
3. Juli. Einigung zwischen Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften ("Patto sul costo del lavoro", Pakt über die Arbeitskosten) über neue Verhältnisse zwischen Unternehmer und Gewerkschaften sowie eine neue Gehaltspolitik.
3.-4. August. Wahlsystemsreform, in Richtung eines mehrheitlichen Systems.
1994
16. Januar. Das Parlament wird vorzeitig aufgelöst.
22. Januar. Die christdemokratische Partei wird aufgelöst.
22. Januar-6. Februar. Geburt neuer Parteien (PPI, CCD, Forza Italia).
27.-28. März. Wahlen. Polo delle libertá e del buon governo (Rechts) 45.9%, Progressisti (Links) 32.9%, Patto per l'Italia (Mitte) 15.8%.
11. Mai. Regierung von Silvio Berlusconi (Polo).
13. Mai. Die sozialistische Partei wird aufgelöst.
1995
17. Februar. Regierung von Dini ("Regierung der Techniker").
21. Februar. Neue Währungskrise.
1996
16. Februar. Das Parlament wird vorzeitig aufgelöst.
27.-28. März. Wahlen. Ulivo Progressisti (Mitte-links) 44.9%, Polo (Mitte-rechts) 40.3%, Lega Nord 10.9%.
17. Mai. Regierung von Romano Prodi (Ulivo).
26.-27. September. Finanzgesetz um die Maastricht-Kriterien zu erfüllen.
25. November. Die Lira tritt dem Europäischen Währungssystem wieder bei.

 

Kleine Bibliographie

F. Barca, Storia del capitalismo italiano dal dopoguerra ad oggi, Roma 1997
G.M. Bellu, S. Bonsanti, Il crollo, Bari 1993
L. Cafagna, La grande slavina, Venezia 1993
P. Ginsborg, L'Italia dal dopoguerra ad oggi. Societŕ e politica. 1943-1988, Torino, 1989
P. Ginsborg, L'Italia del tempo presente. Famiglia, societŕ civile, Stato. 1980-1996, Torino, 1998
E. Gualmini, L'evoluzione degli assetti concertativi in Italia e Germania, in "Rivista Italiana di Scienza Politica", XXVII (1997), n. 1
G.P. Pansa, Il regime, Milano 1991
M. Salvadori, Storia d'Italia e crisi di regime, Bologna 1994
G. Sani, 1992: La destrutturazione del mercato elettorale, in "Rivista Italiana di Scienza Politica", XXII (1992), n. 3
P. Scoppola, La Repubblica dei partiti, Bologna 1991

M.J. Bull, M. Rhodes, Crisis and Transition in Italian Politics, London 1997
S. Gundle, S. Parker, The new Italian Republic, London-New York, 1996
P. McCarthy, The Crisis of the Italian State, London 1997
L. Morlino, M. Tarchi, The dissatisfied society: the roots of political change in Italy, in "European Journal of Political Research", XXX (1996), n. 1

Dank: Ich möchte mich bei Maria Müller und Brigitte Lechner für die Korrekturen des deutschen Texts bedanken.